Jan Wahlen präsentiert

Lieblings-Alben 1999



Antonelli Electr. "Me, The Disco Machine"
Die mental schwerste Zeit des Jahres ist für mich der Herbst. Die Tage werden kürzer, der Winter droht. Klar, der Februar bringt noch schlechteres Wetter, aber dann lässt sich mit Blick auf den Kalender Hoffnung schöpfen. Zum Glück ist der Herbst die absolute Hoch-Zeit der Musikindustrie, und in jedem Jahr gibt es mindestens ein Album, das das Sommer-Gefühl verlängert und damit den Herbst erträglich macht. In diesem Jahr ist es "Me, The Disco-Machine" von Antonelli Electr. aus Düsseldorf. Stefan Schwander, der Mann hinter dem Projekt, hat es geschafft, House-Beats zu programmieren, die so federleicht sind, wie ich es noch nie gehört habe (nicht mal The Modernist kann da mithalten). Diese Musik ist zwar minimalistisch gestaltet, wirkt aber überhaupt nicht angestrengt, wie es im Bereich Minimal Techno leider häufig vorkommt. Im Gegenteil: "Me, The Disco Machine" ist verblüffend elegant, geradezu auf Hochglanz poliert. Bei Antonelli Electr. wippen sogar hartgesottene Joe-Cocker-Fans mit dem Kopf und schnippen mit den Fingern.

Beck "Midnite Vultures"
Wie jeder Musik-Freund weiß ich seit Jahren, dass Beck Hansen unglaublich talentiert ist, aber bisher war mir der Bursche einfach zu brav. Das hat sich mit "Midnite Vultures" gründlich geändert, ab jetzt gilt: Beck ist einer von uns! Endlich hat er damit aufgehört, geschmackssichere Musik für den weißen amerikanischen Mittelstand zu machen. Stattdessen legt Beck jetzt richtig los und feiert eine musikalische Orgie, die ihresgleichen sucht. "Midnite Vultures" ist zügellos und dekadent, glitzernd und flirrend wie eine ausschweifende Party im Studio 54. Beck klaut wieder wie eine Elster (wir kennen das von "Odelay"), aber diesmal zitiert er die Musik-Geschichte nicht wörtlich, sondern begnügt sich damit, psychedelische Sounds aus vergangenen Jahrzehnten zu adaptieren. Leider werde ich den unbestimmten Verdacht nicht los, dass dies nur eine Episode ist, die Beck schon bald wieder hinter sich lassen wird. Mal abwarten.

Mary J. Blige "Mary"
Mary J. Blige ist für mich die wahre Queen of Soul der neunziger Jahre, obwohl ihre Konkurrentinnen Whitney Houston und Mariah Carey kommerziell erfolgreicher sind. Mary J. Blige ist ihrer Musik, dem Rhythm & Blues, nicht nur treu geblieben, sondern hat dieses Genre maßgeblich und stilprägend beeinflusst. Während Mary musikalische Pionierarbeit abseits des Mainstream-Pop geleistet hat, war Mariah Carey vollauf damit beschäftigt, ihren ohnehin schon enormen Stimmumfang so zu erweitern, dass sie jetzt zwitschern kann wie eine Nachtigall (ihre Musik ist dadurch aber auch nicht besser geworden). Was noch für Mary J. Blige spricht: R&B ist die Musik der großen Gefühle, und niemand wirkt glaubwürdiger als Mary. Man nimmt ihr das, wovon sie singt, ohne Zweifel als erlebt ab - von einem solchen Vertrauensvorschuss kann die klinisch reine Whitney Houston nur träumen. Diese Zeilen hätte ich jederzeit schreiben können, aber in diesem Jahr sind sie aktuell: Mary J. Blige beschließt das Jahrzehnt mit ihrem bisher schönsten Album.


Foxy Brown "Chyna Doll"
Als Ende 1996 Lil' Kim und Foxy Brown ihre Debutalben herausbrachten, habe ich mich für "Hard Core" von Lil' Kim entschieden und auch sonst zu ihr gehalten (ähnlich wie ich mich in meiner frühen Jugend für Slade und damit automatisch gegen Sweet entschieden habe). In diesem Jahr, nach der Veröffentlichung von "Chyna Doll", bin ich schamlos zu Foxy Brown übergelaufen. Niemand stöhnt kürzer und verächtlicher "uuh" als Foxy Brown, während sie über die Unzulänglichkeiten der Männer herzieht. Zumindest die erste Hälfte der CD ist auch musikalisch grosse Klasse: trockene Beats und coole Arrangements ohne lästigen Overhead. Die zweite Hälfte der CD höre ich kaum, weil dort nervige männliche Gast-Rapper ihr Unwesen treiben. Lil' Kim schnaubt jetzt wahrscheinlich vor Wut, denn ich bin bestimmt nicht der einzige Abtrünnige, aber da hilft nur eines: endlich das zweite Album aufnehmen und mit viel Tamtam auf den Markt bringen. Dann werden die Karten wieder neu gemischt.

Innerzone Orchestra "Programmed"
Immer mal wieder erscheinen Alben, die den Zuhörer mitnehmen auf eine Reise durch Raum und Zeit. Die grobe Marschrichtung ist bei jedem Hören gleich, aber die einzelnen Stationen werden bei jedem Durchlauf etwas anders erlebt. Mit solchen Alben kann man jahrelang leben. In diesem Jahr ist dieses Kunststück Carl Craig gelungen, dem Mann, der das Innerzone Orchestra "programmiert". Ausgehend vom Detroit Techno führt uns der Trip zum elektronischen Jazz und endet irgendwann erleuchtet im Nirwana. Unterwegs besuchen wir Sun Ra, Stevie Wonder und viele weitere Größen der schwarzen Musik, bei jedem Hören andere. Für alle, denen die 75minütige Erlebnisreise zu anstrengend ist, hat Carl Craig einen kompakten Kurz-Trip im Programm: Buchen Sie 9 Minuten "Blakula"!

Karma "Thrillseekers"
Ja, ich mag Gebrauchsmusik! Das Geständnis fällt mir nicht leicht, aber das ist nun mal die Wahrheit. Gebrauchsmusik ist für mich solche Musik, die man im Hintergrund dudeln lassen kann, während man mit wichtigeren Dingen beschäftigt ist, die musikalisch untermalt werden sollen. Die Musik sollte instrumental sein, weil Texte ablenken, vor allem dann, wenn sie in deutsch oder englisch sind, ich sie also verstehen kann. Außerdem sollten die Klänge ruhig und entspannt sein, völlig ohne Hektik daherpluckern, und das von der ersten bis zur letzten Minute des Albums. Ihr glaubt gar nicht, wie schwierig es ist, solche CDs zu finden! Das meiste, was in dieser Richtung auf dem Markt ist, klingt einfach zu platt und flach, was auch schon wieder störend ist. Doch es gibt Ausnahmen wie das neue Album des Kölner Duos Karma. Originär geht es dabei zwar um Thrillseeking beim Autofahren, aber diese warmen Grooves kann man auch bei vielen anderen Gelegenheiten genießen. Mir ist völlig schleierhaft, warum dieses Album so ein Mauerblümchen-Dasein fristet. Eigentlich müsste es Interessenten en masse geben: Kaffeehaus-Betreiber(innen), Sexfilm-Produzenten, Boutique-Besitzerinnen und und und...

Mos Def "Black On Both Sides"
Text

Scritti Politti "Anomie & Bonhomie"
Als ich die spärliche Ankündigung von "Anomie & Bonhomie" las, bin ich fast vom Hocker gefallen. Nach 11 Jahren Pause erscheint völlig unspektakulär eine neues Album von Scritti Politti, meiner Lieblings-Band aus den 80er Jahren. Eigentlich sind Scritti Politti so ziemlich die einzigen aus dem "Pop-Jahrzehnt", die ich heute überhaupt noch hören mag. Welche Musik wird Green Gartside, der Kopf von Scritti Politti, 1999 machen? Um es vorweg zu nehmen: Viel hat sich nicht geändert. Die einzige wesentliche Neuerung besteht darin, dass Gartside sich in einigen Titeln auf HipHop einlässt (natürlich rappt er nicht selbst, das überlässt er Profis wie Mos Def oder Me'Shell NdegeOcello). Ansonsten ist diese Musik geradezu rührend altmodisch, aber sie hat etwas, was heutzutage selten geworden ist, nämlich jede Menge Charme! 11 Jahre Pause - das mag rekordverdächtig erscheinen, wird aber locker getoppt von Steely Dan, die nächstes Jahr ihr erstes Studio-Album seit 20 (!) Jahren veröffentlichen werden. Und darauf bin ich richtig gespannt!

Super_Collider "Head On"
Beim ersten Hören von "Head On" habe ich vor Staunen kaum noch den Mund zugekriegt. Nachdem das Album durchgelaufen war, hing ich sprachlos in den Seilen. Was war passiert? Nun, ich habe die innovativste Musik gehört, die es im Bereich Elektronik gibt. In der elektronischen Musik geht es seit Jahren nur langsam voran. Um ernst genommen zu werden, sehen sich viele Musiker gezwungen, auf den eingefahrenen Wegen zu wandeln, Veränderung findet nur in zähflüssigen Iterationen statt. Und dann kommen Super_Collider daher, machen alles anders und schlagen ein wie eine Bombe! Allein schon die unorthodoxen Klänge von Soundbastler Christian Vogel sind bemerkenswert, aber in Kombination mit dem Gesang von Jamie Lidell wird daraus eine aufsehenerregende Angelegenheit. Lidell röhrt sich mit fiebriger Intensität durch die Songs, und fast habe ich den Eindruck, dass er seine Batterien auflädt, indem er dem Zuhörer Energie entzieht. "Head On" ist mein Album des Jahres, nicht zuletzt, weil es geradezu körperlich spürbar ist.


TLC "Fanmail"
Keine andere CD habe ich in diesem Jahr sehnsüchtiger erwartet als "Fanmail", das lange angekündigte und immer wieder verschobene Comeback-Album von meiner Lieblings-Girl-Band TLC. Am Tag der Veröffentlichung war ich im Plattenladen und habe einen prüfenden Blick auf das Cover geworfen: die drei Mädchen aufgstylt als Cyber-Babes, im Hintergrund ein Bitmuster. Beim ersten Hören zuhause verfestigt sich der futuristische Eindruck: Die Musik ist nicht nur auf der Höhe der Zeit, sie ist das Modernste, was es am Ende des Jahrzehnts im Mainstream-Pop gibt. Über vier Jahre nach dem Smash-Album "CrazySexyCool" haben TLC alles auf eine Karte gesetzt und alles gewonnen, denn "Fanmail" ist nicht nur modern, sondern auch verdammt gut. Jetzt wissen wir, wie die Zukunft der Pop-Musik sein wird, nämlich weiblich, schwarz und technologiefreundlich! Angeblich sollen sich die drei ja ständig in den Haaren liegen, und ich fürchte, sie werden sich trennen, wenn die Geldverdien-Termine (TV-Auftritte, Video-Drehs, Welt-Tournee) absolviert sind. Aber selbst wenn die Trennung zehn Jahre dauern sollte: Das nächste Comeback-Album im Jahre 2009 kaufe ich wieder ungehört am Erscheinungstag.


*** veröffentlicht im Dezember 1999 ***


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