Antonelli Electr. "Me, The Disco Machine"
Die mental schwerste Zeit des Jahres ist für mich der Herbst. Die Tage
werden kürzer, der Winter droht. Klar, der Februar bringt noch schlechteres
Wetter, aber dann lässt sich mit Blick auf den Kalender Hoffnung
schöpfen. Zum Glück ist der Herbst die absolute Hoch-Zeit der
Musikindustrie, und in jedem Jahr gibt es mindestens ein Album, das das
Sommer-Gefühl verlängert und damit den Herbst erträglich macht. In
diesem Jahr ist es "Me, The Disco-Machine" von Antonelli Electr. aus
Düsseldorf. Stefan Schwander, der Mann hinter dem Projekt, hat es geschafft,
House-Beats zu programmieren, die so federleicht sind, wie ich es noch nie
gehört habe (nicht mal The Modernist kann da mithalten). Diese Musik ist
zwar minimalistisch gestaltet, wirkt aber überhaupt nicht angestrengt, wie
es im Bereich Minimal Techno leider häufig vorkommt. Im Gegenteil: "Me, The
Disco Machine" ist verblüffend elegant, geradezu auf Hochglanz poliert. Bei
Antonelli Electr. wippen sogar hartgesottene Joe-Cocker-Fans mit dem Kopf und
schnippen mit den Fingern.
Beck "Midnite Vultures"
Wie jeder Musik-Freund weiß ich seit Jahren, dass Beck Hansen unglaublich
talentiert ist, aber bisher war mir der Bursche einfach zu brav. Das hat sich mit
"Midnite Vultures" gründlich geändert, ab jetzt gilt: Beck ist einer
von uns! Endlich hat er damit aufgehört, geschmackssichere Musik für
den weißen amerikanischen Mittelstand zu machen. Stattdessen legt Beck
jetzt richtig los und feiert eine musikalische Orgie, die ihresgleichen sucht.
"Midnite Vultures" ist zügellos und dekadent, glitzernd und flirrend wie
eine ausschweifende Party im Studio 54. Beck klaut wieder wie eine Elster (wir
kennen das von "Odelay"), aber diesmal zitiert er die Musik-Geschichte nicht
wörtlich, sondern begnügt sich damit, psychedelische Sounds aus
vergangenen Jahrzehnten zu adaptieren. Leider werde ich den unbestimmten
Verdacht nicht los, dass dies nur eine Episode ist, die Beck schon bald wieder
hinter sich lassen wird. Mal abwarten.
Mary J. Blige "Mary"
Mary J. Blige ist für mich die wahre Queen of Soul der neunziger Jahre,
obwohl ihre Konkurrentinnen Whitney Houston und Mariah Carey kommerziell
erfolgreicher sind. Mary J. Blige ist ihrer Musik, dem Rhythm & Blues, nicht nur
treu geblieben, sondern hat dieses Genre maßgeblich und stilprägend
beeinflusst. Während Mary musikalische Pionierarbeit abseits des
Mainstream-Pop geleistet hat, war Mariah Carey vollauf damit beschäftigt,
ihren ohnehin schon enormen Stimmumfang so zu erweitern, dass sie jetzt
zwitschern kann wie eine Nachtigall (ihre Musik ist dadurch aber auch nicht
besser geworden). Was noch für Mary J. Blige spricht: R&B ist die Musik der
großen Gefühle, und niemand wirkt glaubwürdiger als Mary. Man
nimmt ihr das, wovon sie singt, ohne Zweifel als erlebt ab - von einem solchen
Vertrauensvorschuss kann die klinisch reine Whitney Houston nur träumen.
Diese Zeilen hätte ich jederzeit schreiben können, aber in diesem Jahr
sind sie aktuell: Mary J. Blige beschließt das Jahrzehnt mit ihrem bisher
schönsten Album.
Foxy Brown "Chyna Doll"
Als Ende 1996 Lil' Kim und Foxy Brown ihre Debutalben herausbrachten, habe ich
mich für "Hard Core" von Lil' Kim entschieden und auch sonst zu ihr
gehalten (ähnlich wie ich mich in meiner frühen Jugend für Slade
und damit automatisch gegen Sweet entschieden habe). In diesem Jahr, nach der
Veröffentlichung von "Chyna Doll", bin ich schamlos zu Foxy Brown
übergelaufen. Niemand stöhnt kürzer und verächtlicher "uuh"
als Foxy Brown, während sie über die Unzulänglichkeiten der
Männer herzieht. Zumindest die erste Hälfte der CD ist auch musikalisch
grosse Klasse: trockene Beats und coole Arrangements ohne lästigen Overhead.
Die zweite Hälfte der CD höre ich kaum, weil dort nervige
männliche Gast-Rapper ihr Unwesen treiben. Lil' Kim schnaubt jetzt
wahrscheinlich vor Wut, denn ich bin bestimmt nicht der einzige Abtrünnige,
aber da hilft nur eines: endlich das zweite Album aufnehmen und mit viel Tamtam
auf den Markt bringen. Dann werden die Karten wieder neu gemischt.
Innerzone Orchestra "Programmed"
Immer mal wieder erscheinen Alben, die den Zuhörer mitnehmen auf eine Reise
durch Raum und Zeit. Die grobe Marschrichtung ist bei jedem Hören gleich,
aber die einzelnen Stationen werden bei jedem Durchlauf etwas anders erlebt. Mit
solchen Alben kann man jahrelang leben. In diesem Jahr ist dieses Kunststück
Carl Craig gelungen, dem Mann, der das Innerzone Orchestra "programmiert".
Ausgehend vom Detroit Techno führt uns der Trip zum elektronischen Jazz und
endet irgendwann erleuchtet im Nirwana. Unterwegs besuchen wir Sun Ra, Stevie
Wonder und viele weitere Größen der schwarzen Musik, bei jedem
Hören andere. Für alle, denen die 75minütige Erlebnisreise zu
anstrengend ist, hat Carl Craig einen kompakten Kurz-Trip im Programm: Buchen Sie
9 Minuten "Blakula"!
Karma "Thrillseekers"
Ja, ich mag Gebrauchsmusik! Das Geständnis fällt mir nicht leicht, aber
das ist nun mal die Wahrheit. Gebrauchsmusik ist für mich solche Musik, die
man im Hintergrund dudeln lassen kann, während man mit wichtigeren Dingen
beschäftigt ist, die musikalisch untermalt werden sollen. Die Musik sollte
instrumental sein, weil Texte ablenken, vor allem dann, wenn sie in deutsch oder
englisch sind, ich sie also verstehen kann. Außerdem sollten die
Klänge ruhig und entspannt sein, völlig ohne Hektik daherpluckern, und
das von der ersten bis zur letzten Minute des Albums. Ihr glaubt gar nicht, wie
schwierig es ist, solche CDs zu finden! Das meiste, was in dieser Richtung auf
dem Markt ist, klingt einfach zu platt und flach, was auch schon wieder
störend ist. Doch es gibt Ausnahmen wie das neue Album des Kölner Duos
Karma. Originär geht es dabei zwar um Thrillseeking beim Autofahren, aber
diese warmen Grooves kann man auch bei vielen anderen Gelegenheiten
genießen. Mir ist völlig schleierhaft, warum dieses Album so ein
Mauerblümchen-Dasein fristet. Eigentlich müsste es Interessenten en
masse geben: Kaffeehaus-Betreiber(innen), Sexfilm-Produzenten,
Boutique-Besitzerinnen und und und...
Mos Def "Black On Both Sides"
Text
Scritti Politti "Anomie & Bonhomie"
Als ich die spärliche Ankündigung von "Anomie & Bonhomie" las, bin ich
fast vom Hocker gefallen. Nach 11 Jahren Pause erscheint völlig
unspektakulär eine neues Album von Scritti Politti, meiner Lieblings-Band
aus den 80er Jahren. Eigentlich sind Scritti Politti so ziemlich die einzigen aus
dem "Pop-Jahrzehnt", die ich heute überhaupt noch hören mag. Welche
Musik wird Green Gartside, der Kopf von Scritti Politti, 1999 machen? Um es
vorweg zu nehmen: Viel hat sich nicht geändert. Die einzige wesentliche
Neuerung besteht darin, dass Gartside sich in einigen Titeln auf HipHop
einlässt (natürlich rappt er nicht selbst, das überlässt er
Profis wie Mos Def oder Me'Shell NdegeOcello). Ansonsten ist diese Musik geradezu
rührend altmodisch, aber sie hat etwas, was heutzutage selten geworden ist,
nämlich jede Menge Charme! 11 Jahre Pause - das mag rekordverdächtig
erscheinen, wird aber locker getoppt von Steely Dan, die nächstes Jahr ihr
erstes Studio-Album seit 20 (!) Jahren veröffentlichen werden. Und darauf
bin ich richtig gespannt!
Super_Collider "Head On"
Beim ersten Hören von "Head On" habe ich vor Staunen kaum noch den Mund
zugekriegt. Nachdem das Album durchgelaufen war, hing ich sprachlos in den
Seilen. Was war passiert? Nun, ich habe die innovativste Musik gehört, die
es im Bereich Elektronik gibt. In der elektronischen Musik geht es seit Jahren
nur langsam voran. Um ernst genommen zu werden, sehen sich viele Musiker
gezwungen, auf den eingefahrenen Wegen zu wandeln, Veränderung findet nur in
zähflüssigen Iterationen statt. Und dann kommen Super_Collider daher,
machen alles anders und schlagen ein wie eine Bombe! Allein schon die
unorthodoxen Klänge von Soundbastler Christian Vogel sind bemerkenswert,
aber in Kombination mit dem Gesang von Jamie Lidell wird daraus eine
aufsehenerregende Angelegenheit. Lidell röhrt sich mit fiebriger
Intensität durch die Songs, und fast habe ich den Eindruck, dass er seine
Batterien auflädt, indem er dem Zuhörer Energie entzieht. "Head On" ist
mein Album des Jahres, nicht zuletzt, weil es geradezu körperlich
spürbar ist.
TLC "Fanmail"
Keine andere CD habe ich in diesem Jahr sehnsüchtiger erwartet als
"Fanmail", das lange angekündigte und immer wieder verschobene
Comeback-Album von meiner Lieblings-Girl-Band TLC. Am Tag der
Veröffentlichung war ich im Plattenladen und habe einen prüfenden Blick
auf das Cover geworfen: die drei Mädchen aufgstylt als Cyber-Babes, im
Hintergrund ein Bitmuster. Beim ersten Hören zuhause verfestigt sich der
futuristische Eindruck: Die Musik ist nicht nur auf der Höhe der Zeit, sie
ist das Modernste, was es am Ende des Jahrzehnts im Mainstream-Pop gibt.
Über vier Jahre nach dem Smash-Album "CrazySexyCool" haben TLC alles auf
eine Karte gesetzt und alles gewonnen, denn "Fanmail" ist nicht nur modern,
sondern auch verdammt gut. Jetzt wissen wir, wie die Zukunft der Pop-Musik sein
wird, nämlich weiblich, schwarz und technologiefreundlich! Angeblich sollen
sich die drei ja ständig in den Haaren liegen, und ich fürchte, sie
werden sich trennen, wenn die Geldverdien-Termine (TV-Auftritte, Video-Drehs,
Welt-Tournee) absolviert sind. Aber selbst wenn die Trennung zehn Jahre dauern
sollte: Das nächste Comeback-Album im Jahre 2009 kaufe ich wieder
ungehört am Erscheinungstag.
*** veröffentlicht im Dezember 1999 ***
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